Schwarz-Weiß-Fotografie eines Schlafsaals in einem sogenannten Kindererholungsheim.

Aufarbeitung der Verschickungsgeschichte der Landeshauptstadt Kiel

Die Verwaltung wird beauftragt, ggf. in Zusammenarbeit mit der Kreisarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtsverbände Kiel und anderen Akteuren wie z.B. der Christian-Albrechts-Universität u.ä., die Geschichte der sogenannten Kinderverschickungen im Zeitraum von 1945 bis in die 1990er Jahre im Verantwortungsbereich der Landeshauptstadt Kiel kritisch-historisch zu untersuchen und die Rolle der Landeshauptstadt Kiel und ihrer Einrichtungen bei Kinderverschickungen aufzuarbeiten. Dabei sind insbesondere die Geschichte des Kinderheims Haus Kiel in Wyk auf Föhr unter Trägerschaft der Landeshauptstadt Kiel und des Heims Tannenberg in Kiel-Wik zu berücksichtigen. Auch, ob es eventuell Verschickungen in das (heutige) Jugenddorf Falckenstein gab, soll überprüft werden.

Die Initiative Verschickungskinder und das Zentrum zur Geschichte Kiels im 20. Jahrhundert sind in die Untersuchung einzubeziehen.

Darüber hinaus soll die Landesregierung gebeten werden, ein landesweites Forschungsprojekt zur Untersuchung und Aufarbeitung der Geschichte der Kinderverschickungen aus und nach Schleswig-Holstein zu initiieren.

Begründung

Verschickung war der nach 1945 in der Kinderheilkunde in der Bundesrepublik Deutschland gängige Begriff für das systematische Verbringen von Kindern in weit abgelegene Kindererholungsheime und Kinderheilstätten zum Zwecke des Aufpäppelns und der Erholung. Es geschah mittels eines Systems von Sonderzügen und Entsendestellen, die vertraglich an die Kindererholungsheime und -heilstätten gebunden waren. Medizinisch waren es Kinderheilkuren, finanziert von Krankenkassen, Rentenversicherungsträgern und zahllosen anderen Wohlfahrtsträgern. Die Kinder wurden einzeln, ohne Kindergartengruppe, und allein, ohne Eltern, in willkürlich zusammengestellten Gruppen, meist per Bahn, verschickt. Besonders empfohlen wurde die Zeit vor dem Schulalter. Die Kinder wurden von den Gesundheitsämtern bei Schuleingangsuntersuchungen „durchgemustert“, dann wurden die Verschickungen von den Jugend- und Gesundheitsämtern empfohlen, das wurde an den Hausarzt weitergegeben, für eine ärztliche Diagnose. In vielen Verschickungsheimen herrschte über lange Zeit ein strenger, vereinzelt noch von der NS-Ideologie geprägter Umgang mit den Kindern. Er war unter anderem von Johanna Haarer in ihrem Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (1934 bis 1987 verkauft) propagiert worden. Dazu gehörten Erprügeln von Gehorsam, strenge Sauberkeitsforderungen, körperlicher Zwang und das Diktat der Uhr. Psychische und körperliche Gewalt wurde von den Kindern erlitten. Zur Verschleierung der Umstände mussten viele Kinder vorgegebene Texte von einer Tafel auf Postkarten abschreiben, die dann an die Eltern nach Hause geschickt wurden. Die erhoffte Kur wurde so vielfach zum Albtraum, der nicht selten zu neuen, oft massiveren, Erkrankungen führte.

Laut der aktuellen Studie „Die Geschichte der Kinderkuren und Kindererholungsmaßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1945 und 1989“ der Humboldt-Universität Berlin durchliefen zwischen 9,8 und 13,2 Millionen Kinder und Jugendliche Aufenthalte in Kinderkur- und -erholungsheimen. Bundesweit gab es mehr als 2000 Verschickungsheime, davon befanden sich mindestens 217 Heime in Schleswig-Holstein. Einige der Heime blieben noch bis Mitte der 90er Jahre unverändert und unreformiert erhalten. Eine institutionelle Veränderung ergab sich erst durch den Mitte der 90er Jahre erfolgten Umbau der meisten Heilstätten und Kindererholungsheime in Mutter-Kind-Kliniken.

Die durch die Verschickungen verursachten, teils massiven, Traumata wirken vielfach bis heute nach. Eine Auseinandersetzung mit traumatischen Erlebnissen in den Verschickungsheimen aber fand lange Zeit nur in Einzelfallschilderungen statt, im Kinderbuch „Schwarze Häuser“ von Sabine Ludwig oder in Internetforen von Betroffenen. Erst seit Ende der 2010er Jahre findet Aufarbeitung in (etwas) größerem Rahmen und unter Mitwirkung staatlicher Institutionen statt. Es wird Zeit, auch die Kieler Verschickungsgeschichte zu untersuchen und aufzuarbeiten.

Vorgang im Infosystem Kommunalpolitik:
Antrag der Ratsfraktion DIE LINKE / DIE PARTEI – 0708/2025

Status: Entscheidung in der Sitzung der Ratsversammlung am 17. Juli 2025.